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Wann ist ein Mann ein Mann?

  • Autorenbild: Robert Rienass
    Robert Rienass
  • 4. März 2021
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 31. März 2022

Wege aus der maskulinen Identitätskrise

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Der Mann ist in tiefer Not. Und das nicht erst seit gestern. Während die Frau sich seit rund 250 Jahren emanzipiert, scheint er hinter den immer gleichen Werten und Idealen stehen zu bleiben. Doch die gesellschaftliche Relevanz des traditionellen männlichen Bildes sinkt und eine moderne Rolle scheint noch nicht gefunden zu sein. Was der Mann jetzt braucht ist eine neue Selbstverständlichkeit.


Das gesellschaftliche Ideal


Ganz ehrlich: Welcher Mann hat wirklich das Gefühl dem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen? Ich habe und hatte es nie. Ich bin nicht beherrschend. Nicht körperlich stark. Kaum an technischen Dingen interessiert. Ich habe keine breiten Schultern und trinke ungern Bier. Bin ich deswegen weniger männlich?


Diese Frage hätte ich bis vor wenigen Jahren mit einem klaren „Ja“ beantwortet. Ich glaubte an die Stereotypen und Rollenbilder der Geschlechter, die mir seit dem Kindergarten eingetrichtert wurden: „Ein echter Mann muss groß und stark sein. Ein echter Mann muss die Familie finanziell versorgen. Ein echter Mann schaut gern Fußball. Ein echter Mann weint nicht.“ Wie absurd. Hat dieses veraltete maskuline Bild nicht längst ausgedient?


Die Evolution des Mannes


Der Mann war lange Zeit das bestimmende Geschlecht. Von Beginn der Menschheitsgeschichte an besetzte er jede politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich relevante Position. Er war der König - Zuhause und auf der Arbeit. Er bestimmte über die Rechte der Frauen und Kinder. Er entschied über Krieg und Frieden. Und das oft mit emotionaler und körperlicher Härte. Unter seiner Führung entstand die traditionelle Gesellschaft, in der die Herkunft und das Geschlecht vorgaben, was oder wer man sein durfte. Der eigene Antrieb, die individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse zählten kaum.


Der Anbruch des industriellen Zeitalters brachte erste Veränderungen. Robustheit und Kampfbereitschaft verloren im Zuge des technologischen Fortschritts und der veränderten Arbeitsweise an Bedeutung. Es ging nicht mehr um Eroberungsfeldzüge - sondern um eine wirtschaftlich rentable Führung von Fabriken. Gleichzeitig emanzipierte sich die Frau. Sie nutze die Chance des politisch-ökonomischen Wandels, um aus dem Schatten ihrer Unmündigkeit zu treten und übernahm erste wichtige Schlüsselpositionen in der Gesellschaft.


Heute, im Zeitalter der Information, scheint das traditionelle Bild des Mannes obsolet. Die voranschreitende Gleichstellung der Geschlechter und die Veränderung der Arbeitswelt mindern seinen Machtanspruch so stark wie nie zuvor. Einige Männer müssen sich für ihr traditionelles Gedankengut und Verhalten sogar auf der Anklagebank rechtfertigen. Der Vorwurf an sie lautet „Sexismus“. Es liegt auf der Hand, dass eine global vernetzte Gesellschaft, in der es hauptsächlich um Denkleistung geht, nicht mehr auf Muskeln, militärische Stärke und Machogehabe angewiesen ist. Was nun zählt sind Flexibilität, Besonnenheit und soziale Intelligenz.


Ex-US-Präsident Donald Trump
Ex-US-Präsident Donald Trump: Symbolfigur eines frauenverachtenden virilen Männerbilds

Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit


Klar, dass jene Kerle, die in sich selbst nur den harten, Vernunft getriebenen und emotional unmündigen Menschen sehen, Angst vor ihrem eigenen gesellschaftlichen Abstieg haben. Statt mit dem Wandel der Zeit zu gehen, flüchten sie sich in ein überholtes und trügerisches Selbstverständnis. Bestes Beispiel dafür sind Donald Trump und die AfD. Aus ihrer Angst heraus, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, nehmen sie die Opferrolle ein und beharren starrsinnig auf einer traditionellen Vorstellung von Männlichkeit.


Während der eine Teil der Männer krampfhaft am alten virilen Muster festhält und seine Revitalisierung erzwingen möchte, scheint die Mehrheit der Herren verunsichert darüber zu sein, wie sie sich geben und positionieren soll. Noch existiert kein gesellschaftlich akzeptiertes Bild des modernen Mannes, das den Jungs unserer Gesellschaft eine klare und positive Orientierung gibt. Und so steckt der Mann in einem luftleeren Raum. Irgendwo zwischen grölendem Baumfäller und empathischem Frauenversteher.


Das maskuline Dilemma


Bereits 1984 besingt Herbert Grönemeyer dieses Dilemma - sehr ironisch, mit vielen Stereotypen und existentiellen Wahrheiten gespickt. Sein Lied „Männer“ ist eine Art Hymne, das die ganze Komik und Tragik des maskulinen Geschlechts beschreibt. Bis heute. Die Zeilen „Männer haben's schwer, nehmen's leicht“, „Außen hart und innen ganz weich“ und „Werd'n als Kind schon auf Mann geeicht“ scheinen aktueller denn je.


Zwar sind die Zeiten, in den Frauen nicht wählen und Männer nicht weinen dürfen vorbei – gesellschaftlich herrschen aber immer noch ziemlich starre Vorstellungen darüber, was typisch männlich und typisch weiblich ist. Das führt dazu, dass die wenigsten Männer offenkundig Schwächen zeigen, Emotionen zulassen und stolz über ihre Empfindsamkeit berichten. All diese Eigenschaften werden immer noch eher den Frauen zugeschrieben.


Auch wenn Herren heute kein Unternehmen und keine Kompanie mehr leiten müssen, stattdessen Therapeut, Erzieher oder Hausmann sein dürfen, werden die traditionellen virilen Merkmale weiterhin sozial vererbt. Und so leben wir in einer Gesellschaft, die paradoxerweise eine feingliedrige und gemeinnützige Denkweise und keine bloße Muskelkraft mehr benötigt, in der aber trotzdem ein Teil der Männer störrisch auf alte Konstrukte beharrt, während der Rest sich unsicher und schambehaftet hinter den eigenen Talenten versteckt.


Gerade Serien und Filme nähren diesen Widerspruch. Sie bremsen mit ihren stereotypischen Bildern den gesellschaftlichen Fortschritt. Beste Beispiele dafür sind „James Bond“, „The Wolf of Wall Street“ und „Fast and Furious“. Der Mann spielt darin immer den starken Part. Immer den Chauvi, der jeden emotionalen und körperlichen Schmerz unbekümmert wegsteckt.



Empathie sozial anerkennen


Wir scheinen ein wirkliches Problem mit der Vorstellung von Männlichkeit zu haben. Das bestätigt auch der britische Journalist Jack Urwin, der in seinem Buch “Boys don’t cry” schreibt, Männern werde bereits in der frühen Kindheit beigebracht, keinen Wert auf soziale und emotionale Kompetenzen zu legen. Männer, die gefühlsbetont, sozial intelligent oder intellektuell sind, hegen meist tiefe Selbstzweifel. Sie führen selten ein authentisches Leben. Ihre Angst vor Repressalien scheint groß.


Bei der Diskussion um Männlichkeit geht es augenscheinlich kaum um biologische Faktoren. Prägend sind die gesellschaftlichen Vorstellungen. Das Aussehen, die Kleidung, die Charakterzüge, der Beruf, die Hobbys und die Sprache entscheiden darüber, ob jemand sozial gesehen ein Mann ist oder nicht. Dieses Schubladendenken führt zu vielen Erwartungen. Eltern, Freunde, Erzieher, Lehrer, Vorgesetzte - sie alle tragen eine gewisse Annahme mit sich, wie ein Junge zu sein hat. Und das verursacht Druck, den der Mann bereits im Kindheitsalter spürt.


Ein Blick in die Stube der Kleinen veranschaulicht dieses Bild. Da spielen Jungs mit Pistolen, Schwertern, Playmobil und Lego, während die Mädchen rosa Prinzessinenkleider tragen und sich über Barbiepuppen freuen. Ein Junge der lieber den Kinderwagen schiebt, statt mit Bauklötzen zu hantieren, wird es schwer haben den passenden Spielpartner innerhalb des eigenen Geschlechts und damit die gewünschte Anerkennung im Außen zu finden.


Emanzipation als Positivbeispiel


Die Wahrheit ist: Männer werden nicht als Mann geboren, sondern zu ihm gemacht. Einzig seine körperlichen Merkmale sind gegeben. Der Rest ist konstruiert. Und damit wandelbar. Doch welche Möglichkeiten zur positiven Veränderung gibt es?


Viele Männer orientieren sich bei der Frage nach der eigenen Identität stark an den Wünschen der Frau. Sie ordnen sich der weiblichen Emanzipation unter. Doch das allein ist noch lange kein eigener Standpunkt. Auf dem Weg zu einer neuen Selbstverständlichkeit muss der Mann seinen individuellen Pfad finden. Und sich von gesellschaftlichen Erwartungen lösen.


Die Frauen haben gezeigt, wie es geht. Der Feminismus hat es ihnen ermöglicht, aus einer einst selbstverständlichen Unterdrückung heraus in die Welt der Männer vorzustoßen und maskuline Attribute für sich zu beanspruchen. Gleichzeitig scheinen sie ihre „typisch weiblichen” Charakterzüge behalten zu haben. Eine Frau, die ein Unternehmen mit viel Durchsetzungsvermögen und klarer Kante führt, ist heute keine Seltenheit mehr. Ebenso akzeptiert sind jene Frauen, die weiterhin gern zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Der Schlüssel zum Erfolg scheint also in der eigenen gesellschaftlichen Befreiung zu liegen. Und in der Vernetzung verschiedener sozialer Rollen miteinander. Auch die Anerkennung der Individualität und der Austausch untereinander ist ein wichtiges Kriterium auf dem Weg zu mehr Selbstverständlichkeit.


Feminismus
Männer können vom Erfolg des Feminismus lernen

Facettenreichtum ausleben


Daraus ergibt sich eine klare Prämisse für den Mann: Er braucht eine eigene Emanzipierung. Es ist höchste Zeit, dass er die Entgrenzung des eigenen Geschlechts als Chance wahrnimmt, um seinen individuellen Charakter und Wesenszug zum Ausdruck zu bringen. Männlichkeit darf künftig nicht mehr nur einzeln gedacht werden. Sondern im Plural. Das bedeutet, dass der sensible Mann als gleich männlich gilt wie der weniger feinfühlige Mann, ohne dass der eine als „Weichei“ und der andere als „Grobklotz“ abgestempelt wird. Es bedeutet, dass auch der weiße, heterosexuelle und traditionell denkende Mann weiterhin existieren darf, aber eben nicht mehr als allgemeingültige Werkseinstellung für eine ganze Gesellschaft.


Dafür braucht es eine Stärkung der männlichen Rechte auf Schwäche und Anderssein. Auf Verletzlich- und Empfindsamkeit. Es muss dem Mann gelingen, die Vorteile von Empathie und Sensibilität zu erkennen und für sich selbst anzunehmen. Sie dürfen nicht mehr als rein weibliche Wesenszüge verschrien sein.


Dann und nur dann, gelingt uns ein Zusammensein, in dem wir authentisch leben und voneinander partizipieren, statt verbissen um Rollenbilder und Attribute des anderen Geschlechts zu kämpfen. Auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau wäre besser. Und wir würden erkennen, dass ein einfaches „Ich-Selbst-Sein” für eine gut funktionierende gesellschaftliche Zukunft ausreicht.


Text: Robert Rienass

Bilder: Djordje Petrovic / Pexels, Alex Gakos / Shutterstock, Maryia Plashchynskaya / Pexels

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